Gelesen: Das Cabaret der Erinnerungen

Auf nach Shetl City!

„Ich glaube mit meinen Ängsten leben gelernt zu haben, doch nach der Geburt (seines Sohnes) sind sie aufs Neue hochgekommen“, lässt der Straßburger Autor Joachim Schnerf (Jg. 1987) seinen Protagonisten mitten in seinem schmalen Roman sagen. Wie mit dem Holocaust umgehen? Das ist die Frage aller Fragen. Sie gilt auch für die dritte Generation der Überlebenden.

Straßburg Texas

Gleich drei Geschichten kommen abwechselnd zu Wort, natürlich sind sie miteinander verbunden. Die eine spielt in Texas, wo die letzte Auschwitz-Überlebende in einem Wüstenkaff ein Cabaret gegründet hat. Dort erzählt Rosa jeden Abend aufs Neue ihre Geschichte. Ihre letzte Show steht an. „Ich wurde in einem kleinen Shtetl in der Nähe von Krakau geboren, im Jahr 1930…“ Die andere Geschichte hat als Schauplatz Straßburg, der Erzähler wird Vater und seine Familiengeschichte holt ihn ein. Sein Opa hatte den Holocaust nur überlebt, weil ein Nachbar ihn versteckte. Und es ist die Schwester seines Opas, die mehr oder weniger heil aus Auschwitz, wo „die Auszehrung industrialisiert“ wurde, zurückkam und 1945 nach Texas emigrierte. Warum ging sie fort? Diese Frage bleibt ohne Antwort. (Wenn man weiß, wie gering die Hilfsbereitschaft der Deutschen und Franzosen gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern war, kann man sich die Antwort denken.) Der dritte Strang führt in die Vogesen. Er ist eine fast unwirkliche Erinnerung, „Drei polnisch-elsässische Däumlinge“ (der Erzähler, seine Schwester und ein Freund,) ziehen los, um in der „vogesischen Wüste“ Rosas Cabaret zu finden. Auf nach Shtetl City! Hier mischen sich Räuberpistole, Pfadfinder Expedition und Tagtraum zu einem seltsamen Trip.

Tabus brechen

Auch Joachim Schnerfs dritter Roman kommt mit wenigen Worten und prägnanten Sätzen aus, die das Unsagbare ansprechen, das schon für 1000 Bücher gut war. Dass Rosa in ihrer Show und einem Radiointerview ihre Geschichte in „weniger als zwei Minuten“ zusammenfasst, ist nur scheinbar seltsam. Viele Überlebende des Zweiten Weltkriegs können bzw. konnten nicht anders, als ihr Leid in dürre Worte zu fassen. Aber es kommt doch heraus, wie es war, denn Rosa hat einen Brief geschrieben, der genug berichtet von jener Zeit der „Widerstandskämpfer der letzten und Kollaborateuren der ersten Stunde“. Dieser knappe Brief spricht aus, was so tabu ist, wie beispielsweise die Tatsache, dass auch eine Sophie Scholl zunächst eine glühende Anhängerin Hitlers war. Von Rosa wird berichtet, „dass sie den schwächsten Frauen das Essen geklaut“ hatte.Immerhin: „Sie handelte rasch und diskret.“ Es wird berichtet, wie eine Hebamme zur Engelmacherin wurde und wie und wo die abgetriebenen Föten entsorgt wurden. Das eine hat man vielleicht schon mal (besser) in Rafael Seligmanns „Der Milchmann“ gelesen. Das andere ist so düster und widerlich, wie die Schilderung eines chinesischen Lagers in „1979“ von Christian Kracht.

Die Last der dritten Generation

Einmal schreibt Schnerf, dass es „das Schweigen war, dass in ihm Neurosen gesät hat. Er spricht von Panikattacken. Dann lässt er die Hauptperson einen langen Satz sagen, der mit „wir mussten Mittel finden, anders zu erzählen“ beginnt. „Die Shoa zu singen, zu tanzen, zu mimen, sie fiktiv zu verarbeiten“, hält er für ein Mittel, damit die dritte Generation das Schweigen überwindet. Aber was bleibt den Nachkommen jener Franzosen und Deutschen vor denen Rosa 1945 floh? Können die auch singen oder tanzen? Bzw. können die sich das selbst erlauben? Seit Rilke wissen wir, dass es sich lohnt die Fragen zu lieben. Mit seinem ungewöhnlichen Zugang und dank seiner prägnanten Sprache hat Joachim Schnerf einen guten Zugang zu diesem Thema gefunden, mit dem wir noch lange nicht fertig sein. Ein gutes Buch!

Joachim Schnerf: „Das Cabaret der Erinnerungen“, 124 Seiten, Kunstmann, 20 Euro

Der besondere Satz: „Dann war der Krieg am Ende, die Menschheit auch, und die Erinnerungsarbeit begann.“

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